(...)
Es gibt eine alte Geschichte über die Einwohner einer Insel. Diese Menschen sehnten sich danach, in ein anderes Land auszuwandern, in dem sie ein gesünderes und besseres Leben führen können. Das Problem war, daß die praktischen Künste der Schifffahrt und des Schwimmens bei diesen Leuten nie entwickelt worden oder schon vor langer Zeit verloren gegangen waren. So gab es unter der Bevölkerung der Insel einige, die sich einfach weigerten, über Alternativen für das Leben und diese Insel nachzudenken. Andere versuchten an Ort und Stelle ihre Probleme zu lösen, ohne an eine Überquerung des Wassers zu denken. Ab und zu erfand einer der Inselbewohner die Kunst des Schwimmens aufs neue, und manchmal kam auch ein hoffungsvoller Schüler zu so jemandem, der das Wasser zu überqueren wusste.
Doch meist entwickelte sich dann etwa folgender Dialog (...):
"Ich möchte schwimmen lernen."
"Möchten Sie einen Vertrag aushandeln?"
"Das ist nicht nötig. Ich muß nur meinen Sack Kohlköpfe mitnehmen können."
"Was für Kohlköpfe?"
"Na, das Essen, das ich auf der anderen Seite brauchen werde."
"Dort gibt es besseres Essen."
"Wie soll ich das verstehen? Ich kann doch nicht sicher sein. Nein, meine Kohlköpfe muß ich mitnehmen."
"Aber mit einem Sack Kohlköpfe können Sie nun mal nicht schwimmen."
"Dann kann ich auch nicht mitkommen. Sie nennen es eine Last, ich nenne es meine lebenswichtige Nahrung."
"Sagen wir einmal allegorisch statt Kohlköpfe 'Vermutungen', 'Vorstellungen', 'vorgefaßte Meinungen' oder 'Gewißheiten'... Was dann?"
"Ich gehe mit meinen Kohlköpfen lieber zu einem Lehrer, der versteht, was ich brauche."
(aus: Maturana/Varela: Der Baum der Erkenntnis)